Reise auf die Philippinen

Interview mit unserer Nothilfekoordinatorin Simone Walter

Simone Walter, Nothilfekoordinatorin bei Islamic Relief Deutschland, war vom 26. Januar bis 04. Februar auf den Philippinen, die der Taifun Haiyan (Yolanda) vom 02. bis 11. November 2013 heimgesucht hatte. Ziel der Reise war es, die Lage vor Ort und den Bedarf an Nothilfe festzustellen sowie den Fortschritt der von Islamic Relief initiierten Projekte zu beobachten. Die Redaktion führte ein Interview mit Simone Walter, in dem sie über ihre Erlebnisse berichtet.

Simone, was waren deine Stationen auf den Philippinen?

Als ich auf der Insel Cebu angekommen war, fuhr ich erst einmal ins Islamic Relief-Büro. Dieses wird gerade aufgrund des Taifuns neu aufgebaut. Dort habe ich das Islamic Relief-Team kennengelernt – und bin begeistert von dessen bedingungslosem, passioniertem Einsatz!

Sie alle sind extra aus Pakistan, Bangladesch, Großbritannien und anderen Ländern auf diese Insel gekommen und arbeiten sieben Tage die Woche durch – leben miteinander, reden mit der Zivilgesellschaft, arbeiten miteinander – und setzen sich dafür ein, dass es den Betroffenen des Taifuns besser geht.

Von Cebu sind wir dann zwei Stunden mit dem Auto gefahren und dann etwa eine halbe Stunde mit der Fähre übergesetzt, bis wir auf der Insel Bantayan angelangt waren, die vom Taifun stark betroffen ist. Auf Bantayan waren wir zum einen in der Region Bantayan, zum anderen in der Region Santa Fe, bevor es für mich wieder zurückging.

Wie trägt Islamic Relief zur Nothilfe bei?

Islamic Relief Worldwide beteiligte sich an der Nothilfe vor Ort durch die Verteilung von Zelten und Essenspaketen. Momentan steht die Rehabilitation, sprich der Wiederaufbau, im Vordergrund. An diesem beteiligt sich Islamic Relief, indem sie bis Ende April 2014 270 neue Häuser aufbaut. Dieses Projekt wird finanziert vom Disasters Emergency Committee (DEC) in Großbritannien. Um die Häuser entsprechend der Bedürfnisse der Bewohner zu bauen, wurde nun vorerst ein Modellhaus zur Ansicht erbaut.

Der Bau der Häuser ist eine echte Herausforderung, da es nicht sehr viele Handwerker gibt. Daher sollen einige Einwohner zu Handwerkern geschult und neben Wissen auch mit Werkzeugen ausgestattet werden. Derzeit kommen teilweise Firmen von weit her, um den zügigen Aufbau der Häuser zu gewährleisten.

Was ist das Ziel der Maßnahmen von Islamic Relief?

Islamic Relief möchte langfristig zur Diversifizierung der Lebensgrundlagen beitragen, um die Gemeinden resistenter gegenüber Katastrophen zu machen und auch im Falle des Falles ein stabiles Einkommen zu gewährleisten. Wenn eine Berufssparte – etwa die Fischerei – wegen einer Flut wegfällt, gibt es dann noch andere Tätigkeiten, die die Bewohner über Wasser halten können.

Islamic Relief Deutschland plant mit Unterstützung von Aktion Deutschland Hilft (ADH) ein Livelihood-Projekt (Schaffung von Lebensgrundlagen) mit verschiedenen Komponenten wie Trainings, Cash for Work-Projekten, Katastrophenvorbeugung und Fischerei. Die lokalen Regierungen haben bereits durchdacht, welche Schulungen für die Einwohner wichtig wären, um bessere Einkommensmöglichkeiten zu erhalten – etwa für die Arbeit im Hotelgewerbe, als Kosmetikerinnen und vor allem als Handwerker. Vielleicht können einige von ihnen auch zusätzlich zur Fischerei mit Gemüseanbau im Garten ihre Lebensgrundlage stabilisieren.

Kannst du den Prozess des Modellhausbaus beschreiben? Wie genau läuft das ab?

Islamic Relief hat erst einmal Kontakt zur Provinzregierung aufgenommen und dort unser Anliegen vorgetragen. Wir haben uns vom Bürgermeister beraten lassen: Wo sollen die Häuser am besten gebaut werden? Woher bekommen wir die nötigen Arbeitskräfte? Wie müssen sie ausgebildet sein? Worauf muss man achten? Der Bürgermeister und der Entwicklungsbeauftragte haben sich dann das Modellhaus angeschaut und uns Feedback gegeben. Auch die Einwohner durften mitreden und ihre Meinung zum Modellhaus abgeben. 

Manche Dinge können eben nur die Einheimischen wissen, wie etwa, dass das Holz für die Häuser eine gewisse Zeit getrocknet werden muss, um den Standards entsprechend lange zu halten. Bei nasserem Holz müssen andere Nägel verwendet werden, und generell müssen die Häuser gegen Termitenbefall behandelt werden, um die Lebensdauer zu erhöhen. Außerdem werden wir lokales Material verwenden, um kosteneffizient zu sein und auch, damit die Bewohner es zukünftig selbst bauen können. Die Neubauten werden nicht auf einzelne Dörfer verteilt, sondern an mehreren Orten als kleine Siedlungen gebaut. So besteht die Möglichkeit, dass zeitnah Wasser- und Stromanschlüsse gelegt werden können, was eine enorme Verbesserung zur Situation der Ortschaften vor dem Taifun ist. Langfristig soll die gesamte Bevölkerung von der Risikozone in sicheres Gebiet im Landesinneren in neue Häuser umgesiedelt werden.

Was mich sehr beeindruckt hat: Der Mitarbeiter von Islamic Relief, Munir aus Bangladesch, der das Projekt Hausbau anleitet, hat ein gerade neun Monate altes Baby. Aber er ist hierher gekommen, um zu helfen, und ist mit vollem Einsatz – Tag und Nacht – dabei. Er vermisst seine Familie, aber für ihn ist es keine Frage: Er baut erst die Häuser zu Ende und fährt dann nach Hause. Was für ein engagierter Mensch! Hinzu kommt, dass er wenig Englisch spricht, ebenso wenig wie die Handwerker. Sie unterhalten sich wirklich mit Händen und Füßen. Und es funktioniert!

Wie werden die Begünstigten ausgewählt und welche Herausforderungen bestehen dabei?

Die neuen Häuser werden nach strengen Kriterien vergeben – es werden die ärmsten und verwundbarsten aus den Gemeinden ausgewählt, die ein neues Heim am dringendsten benötigen. Für die Einwohner ist dies manchmal schwierig zu verstehen. So trafen wir eine schwangere Frau, die uns fragte, ob sie ein neues Haus bekommt. Da ihr Mann jedoch ein Einkommen hat, zählt sie nicht zu den Bedürftigsten. Eine andere Frau fragte, ob sie auch ein Haus bekomme, da sie bereits von uns ein Zelt bekommen hatte.

Der Häuserbau bedeutet auch, dass ganze Nachbarschaften nun auseinandergerissen werden. Die Häuser sollen ja in einer Umgebung erbaut werden, die etwas weiter im Landesinneren, raus aus der Risikozone, und somit nicht allzu anfällig für Überflutung und Taifune ist.

Darin besteht für uns die Herausforderung: die Ärmsten in die neuen Häuser umzusiedeln, ohne ihnen ihr gewohntes Lebensumfeld völlig zu entziehen. Einige der Bewohner tun sich wirklich schwer, denn sie sind bereits seit Generationen Fischer und leben dementsprechend in der Nähe des Meeres. Sie kennen nichts anderes als ihre Hütte am Wasser, und auch wenn der neue Lebensraum nicht weit entfernt ist – weg möchten sie nicht. Etwas anderes als ihr Fischerdasein können sich die Menschen am Meer nicht richtig vorstellen. Auf der anderen Seite wünschen die Bewohner sich ein starkes, festes Haus, was die Wellen fernhalten kann.

Man merkt hier schon einen Unterschied zwischen Alt und Jung. So haben die Jüngeren schon Vorstellungen davon, wie sie ihr Geld in Zukunft verdienen könnten. Manche von ihnen wünschen sich zum Beispiel ein Tricycle, ein Fahrrad auf drei Rädern, um damit als Taxifahrer zu arbeiten.

Wie sind die lokalen Regierungen bezüglich Katastrophenschutz aufgestellt? Haben sie für den Taifun und auch für zukünftige Fluten Vorkehrungen getroffen?

Ich bin erstaunt, wie gut die lokalen Regierungen, die ich besucht habe, mit Utensilien für den Katastrophenschutz ausgestattet sind. Sie kennen sich auch mit Katastrophenvorbeugungsmaßnahmen aus und haben Trainings dazu durchgeführt. Was in diesem Fall gefehlt hat waren Radios, um die Bevölkerung zu warnen. So aber ist der Bürgermeister von Haus zu Haus gegangen und hat vor einer „Tigerwelle“ gewarnt. Die in den Nachrichten angewendete Fachsprache hat er so für die Bürger in einfache Sprache übersetzt. Bis 2016 soll jeweils eine Person pro Familie außerdem in erster Hilfe ausgebildet werden. Auf die Frage, was er nächstes Mal anders machen würde, antwortete er uns: „Ich bete dafür, dass es kein nächstes Mal gibt.“ Das Ausmaß von Yolanda bzw. Haiyan war so heftig, dass auch die besten Vorsorgemaßnahmen nicht viel ausrichten können.

Was hat dich am meisten beeindruckt?

 Die Kultur der großen und selbstlosen Hilfsbereitschaft, die es unter den Bewohnern überall zu sehen gibt! Das ist wirklich toll. Sie packen an, wo es nur geht und wo Hilfe gerade nötig ist. Sie leisten sehr viel Freiwilligenarbeit, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, stehen auf unsere Fragen stets Rede und Antwort. Und als wir sie besucht haben, haben sie uns stets mit einem Lächeln und einem „Danke“ verabschiedet. Für diese Art der Hilfsbereitschaft haben sie sogar einen Begriff: Bayanihan. Dies bedeutet so viel wie „gemeinsame Unternehmung“ und motiviert dazu, gemeinsam etwas zu erreichen. Beeindruckend war für mich auch die Abstimmung der Hilfsorganisationen untereinander. Die Hilfe überschneidet sich glücklicherweise nicht, sondern ist gut verteilt.

Was ist für die Zukunft geplant?

Neben dem unmittelbar anstehenden Häuserbau möchten wir als nächstes das Livelihood-Projekt angehen, das sich derzeit in der Konzeptionsphase befindet und mit Aktion Deutschland Hilft umgesetzt werden soll. Auch sind uns Maßnahmen zum Katastrophenschutz ein wichtiges Anliegen.

Vielen Dank, liebe Simone!